Bonhoeffers Ethik

erklärt und angewandt

Diesen Text habe ich vor zehn Jahren in einer Kursarbeit Religion geschrieben.

Was Bonhoeffer sagte:

III Der Ursprung der christlichen Ethik ist nicht die Wirklichkeit des eigenen Ich, nicht die Wirklichkeit der Welt, aber auch nicht die Wirklichkeit der Normen und Werte, sondern die Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung in Jesus Christus. Das ist die Zumutung, die redlicherweise vor allem anderen an jeden gestellt werden muss, der Sich das Problem einer christlichen Ethik angelegen sein lassen will. Sie stellt vor die letzte Entscheidungsfrage, nämlich mit welcher Wirklichkeit wir in unserem Leben rechnen wollen, mit der Wirklichkeit des Offenbarungswortes Gottes oder mit den so genannten Realitäten des Lebens, mit der göttlichen Gnade Oder mit den irdischen Unvollkommenheiten, mit der Auferstehung Oder mit dem Tod.

Ethik, S. 33

V Schlimmer als die böse Tat ist das Böse-Sein. Schlimmer ist es, wenn ein Lügner die Wahrheit sage, als wenn ein Liebhaber der Wahrheit lügt, schlimmer, wenn ein Menschenhasser Bruderliebe übt, als wenn ein Liebhaber der Menschen einmal vom Hass überwältigt wird. Besser als die Wahrheit im Munde des Lügners ist noch die Lüge, besser als die Tat der Bruderliebe des Menschenfeindes ist der Hass.

Ethik, 62 f.

VI Der Verantwortliche ist an den konkreten Nächsten in seiner konkreten Wirklichkeit gewiesen. Sein Verhalten liegt nicht von vornherein und ein für allemal, also prinzipiell fest, sondern es entsteht mit der gegebenen Situation. Er hat kein absolut gültiges Prinzip zur Verfügung, das er fanatisch gegen jeden Widerstand der Wirklichkeit durchzuführen hätte, sondern er sucht das in der gegebenen Situation Notwendige, zu erfassen und zu tun. Die gegebene Situation für den Verantwortlichen ist nicht einfach der Stoff, dem er seine Idee, sein Programm aufzwingen, aufprägen wollte, sondern sie wird als die Tat mitgestaltend in das Handeln mit einbezogen.

Ethik, S. 260

VII Wenn Kant aus dem Prinzip der Wahrhaftigkeit heraus zu der grotesken Folgerung kommt, ich müsse auch dem in mein Haus eingedrungenen Mörder seine Frage, ob mein Freund, den er verfolgt, Sich in mein Haus geflüchtet habe, ehrlicherweise bejahen, so tritt hier die zum frevelhaften Übermut gesteigerte Selbstgerechtigkeit des Gewissens dem verantwortlichen Handeln in den Weg. Wenn Verantwortung die ganze, der Wirklichkeit angemessene Antwort des Menschen auf den Anspruch Gottes und des Nächsten ist, so ist hier der Teilcharakter der Antwort eines an Prinzipien gebundenen Gewissens grell beleuchtet. Die Weigerung, um meines Freundes willen am Prinzip der Wahrhaftigkeit schuldig zu werden, die Weigerung hier um meines Freundes willen kräftig zu lügen, — denn jeder Versuch, den Tatbestand der Lüge wegzudeuteln entspringt Wiedentm nur dem gesetzlich-selbstgerechten Gewissen — die Weigerung also Schuld zu tragen aus Nächstenliebe, setzt mich in Widerspruch zu meiner in der Wirklichkeit begründeten Verantwortung. Es wird Sich auch hier gerade im verantwortlichen Aufsichnehmen von Schuld die Unschuld eines allein an Christus gebundenen Gewissens am besten erweisen.

Ethik, S. 280 f.

In meinen Worten:

Bonhoeffers ethischer Ansatz basiert auf der Definition von Verantwortung, diese wiederum auf der Definition von Wirklichkeit. Jedoch lässt Bonhoeffer seinem Leser die Wahl, ob er die Wirklichkeit in Gottes Worten oder dem was wir Realität nennen, sieht. Im Weiteren sagt Bonhoeffer, dass der Verantwortliche and den Nächsten in seiner Wirklichkeit gebunden ist, also zum Wohle dessen handeln solle und stellt klar, dass es in diesem Handeln keine Prinzipien oder Ideale gibt, mit deren Hilfe man jede Situation bewerten und jede Entscheidung fällen kann. Also betrachtet Bonhoeffer die Situation nicht als zu lösendes Problem, sondern vielmehr als Faktor, der mit in das Entscheiden und Handeln des Einzelnen einfließt. Dies belegt er mit einigen Beispielen, in denen er zeigt, dass jeder Mensch Ideale hat, jedoch diese auch manchmal übergeht.

Abschließend verurteilt er Kants Ethik des kategorischen Imperativs und zeigt anhand eines weiteren Beispiels, dass es absolut lächerlich ist, nach festen Prinzipien oder Maximen zu handeln ohne die individuelle Situation zu bewerten, da dies Konsequenzen haben könne, die kein Mensch verantworten möchte. Zwar kann Bonhoeffer es nicht gutheißen, einem eigenen Prinzip wie beispielsweise der Wahrhaftigkeit zu widersprechen, jedoch hält er es für eine unter Umständen größere Schuld die Verantwortung für die Konsequenzen des prinzipgetreuen Handelns zu übernehmen als einmal seinen Prinzipien entgegen zu handeln.

Angesichts der Umstände, in denen Bonhoeffer diese Ethik entwickelte, nämlich angesichts der Entscheidung ob er sich einer Organisation anschließen solle, deren Ziel es ist das NS-Regime zu stürzen und Hitler zu töten, ist die Hin-und-Her-Gerissenheit Bonhoeffers durchaus nachvollziehbar, auf einer Seite, gut zu erkennen in Abschnitt V, stehen die Ideale und Prinzipien, nach denen ein Mensch handelt, im Fall Bonhoeffers allesamt bibelgetreu, also im Grunde den zehn Geboten entsprechend, auf der anderen Seite steht die Verantwortung die Bonhoeffer auf sich nehmen würde wenn er es nicht täte, nämlich der Tod tausender Menschen. Bonhoeffers Ethik zufolge muss man nun abwägen welche Schuld man eher auf sich nehmen möchte, was man eben verantworten kann und was nicht.

Vergleich Bonhoeffer zu Bentham

Bonhoeffers Ansatz weist einige Ähnlichkeiten mit Benthams utilitaristischen Ansatz des maximalen Glücks und minimalen Leids auf. Bentham betrachtet hierbei die Konsequenzen für den Einzelnen, summiert positive und negative auf und schaut, welche Seite überwiegt, anschließend tut er dasselbe für alle anderen von der Entscheidung betroffenen Menschen und schaut erneut, welche Seite überwiegt. Überwiegt hierbei die Seite des Glücks, also der positiven Konsequenzen, ist die Tat seiner Ansicht nach gut, überwiegt die Seite des Leids, so ist die Tat schlecht.

Vergleicht man nun beide Ansätze, wird man feststellen, dass beide nicht nur über Konsequenzen ihrer Taten und Verantwortungsnahme an den selbigen nachdenken, sondern dass beide für ihrer Meinung nach gute Taten auch die Verantwortung an negativen Konsequenzen beziehungsweise Prinzipienbruch übernehmen. Auch beschränkt sich der Reflektionshorizont der Beiden nicht nur auf sich selbst, wie es beispielsweise bei Thomas Hobbes Theorie der Selbsterhaltung der Fall ist, sondern beide betrachten auch ihre Mitmenschen. Jedoch stellt man fest, dass Bonhoeffer dem Schicksal seiner Mitmenschen mehr Bedeutung verleiht als Bentham es tut. Bentham würde seinen Mitmenschen aktiv Leid zufügen, wenn das Glück Anderer oder seiner selbst überwiegt, Bonhoeffer würde das nicht tun, da er sich fragen würde, ob er dafür die Verantwortung übernehmen kann und möchte. Zudem unterscheidet sich de rAnsatz der Beiden sehr grundlegend bereits daran, dass Bonhoeffer Prinzipien und Ideale hat, die er vertritt und nur im Extremfall diesen zuwider handelt, während Bentham immerzu nach dem selben Vorgehen handelt, keine Ideale oder Prinzipien vertritt und immer die Konsequenzen betrachtet, diese bewertet und diesen entsprechend seine Entscheidungen trifft und handelt.

Anwendungsbeispiel Bonhoeffer

Das Polizeibataillon 101

Vom Hamburger Bahnhof Sternschanze fuhren 502 norddeutsche Polizisten am 21. Juni 1942 nach Polen. Sie wussten nicht, was auf sie zukam: der Befehl, massenhaft zu morden. Drei Wochen später, am 13. Juli 1942, fiel ihre, Lkw- Kolonne vor Morgengrauen in das Dorf Jósefów bei Lublin ein: die meisten seiner 1800 Einwohner Sind Juden.

„Die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 kletterten von ihren LKWs und sammelten Sich im Halbkreis um Major Wilhelm Trapp, einem dreiundfünfzigjährigen Berufspolizisten, den seine Untergebenen liebevoll ‘Papa Trapp nannten. Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie von ihrem Kommandeur erfahren sollten, welchen Auftrag das Bataillon erhalten hatte. Trapp war bleich und nervös, hatte Tränen in den Augen und kämpfte beim Reden sichtlich darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das Bataillon stehe vor einer furchtbar unangenehmen Aufgabe, erklärte er mit tränenerstickter Stimme. Ihm selbst gefalle der Auftrag ganz und gar nicht, die ganze Sache sei höchst bedauerlich, aber der Befehl komme von ganz oben. Vielleicht werde ihnen die Ausführung leichter fallen, wenn sie an den Bombenhagel dächten, der in Deutschland auf Frauen und Kinder niedergehe.

[…]

Das Bataillon habe nun den Befehl, diese Juden zusammenzutreiben. Die Männer im arbeitsfähigen Alter sollten dann von den anderen abgesondert und in ein Arbeitslager gebracht werden, während die übrigen Juden — Frauen, Kinder und ältere Männer — vom Polizeibataillon auf der Stelle zu erschießen seien. Nachdem Trapp seinen Männern auf diese Weise erklärt hatte, was ihnen bevorstand, machte er ein außergewöhnliches Angebot: Wer von den Älteren Sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte, könne beiseitetreten. […]”

Nur zögernd trat der Erste beiseite, darauf eine Handvoll weiterer Polizisten. Diese brauchten nicht mehr an Erschießungen teilzunehmen; weitere Folgen entstanden für sie nicht daraus. Alle anderen machten von diesem Angebot keinen Gebrauch.

Zitiert nach: Browning, C.R.: Ganz normale Männer. Das Reservepolizeibataillon 101 und die „Endlösung” in Polen, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2005

Erörterung, frei nach Bonhoeffer

Handelte einer der Polizisten in diesem Beispiel nach Bonhoeffers Ethik, so würde er nicht nur im Konflikt seiner Ideale und Prinzipien und seiner Verantwortung stehen, sondern höchstwahrscheinlich im Konflikt zweier Prinzipien beziehungsweise Ideale. Dies führt natürlich angesichts der obenstehenden Auszüge aus Bonhoeffers Werken zuerst zu einer Lücke seiner Ethik, jedoch denke ich, dass in Bonhoeffers Ethik einzelne Ideale und Prinzipien bewertet werden, welche abhängig von der Wirklichkeit, für die sich der Einzelne entscheidet vielleicht sogar nichteinmal existieren. Liegt nun die Wirklichkeit auf der einen jener Polizisten Bonhoeffers Ethik begründet in der Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung in Jesus Christus, so wird das Tötungsverbot für ihn sehr wahrscheinlich an deutlich höherer Stelle stehen als das Gebot seinem Major zu folgen, sodass er in dem Konflikt gerät den mehrfachen Verstoß gegen das Tötungsverbot auf sich zu nehmen oder doe Verantwortung vor seinem eigenen Gewissen zu übernehmen den Befehl zu verweigern. Wäre der Major einer dieser Menschen, so würde er keine Sekunde zögern den Befehl zu verweigern. Schwieriger würde es jedoch, wenn einer der Betroffenen Bonhoeffers Ethik verwendet und sie auf der Wirklichkeit der Realität begründet, also einzig die tatsächlichen weltlichen Aspekte betrachtet. Für ihn hätte Gehorsam als Ideal sehr wahrscheinlich einen weitaus höheren Rang. Würde er nach Bonhoeffers Ethik entscheiden wäre es unklar was er tun würde. Jedoch würde Bonhoeffers Ethik mit der Frage der Verantwortung mehr verlangen als bloß zur Seite zu treten, da jeder Polizist von dem Befehl weiß und daher einen Teil der Verantwortung trägt, wenn nicht sogar die ganze Verantwortung an dem Tod zahlreicher Menschen. Und diese Verantwortung, dem wird jeder zustimmen, wiegt weitaus schwerer als der Verstoß gegen das Ideal von Ordnung und Gehorsam.